Siegfried Pflegerl
Wie soll man abstrakte Bilder verstehen? Was will Diezl mit seinen Bildern sagen?
Es gibt schon einige kompetente Analysen der Bilder Reinhard Diezls. Und dennoch wollen wir versuchen, einen weiteren Schritt der Annäherung zu tun. Während bisher immer versucht wird, die Werke eines Künstlers aus der Entwicklung der bisherigen Malerei heraus zu interpretieren, zu erklären und sie damit in eine in der Vergangenheit beginnende Linie einzufügen, wollen wir hier den Weg aus der Zukunft in die Gegenwart beschreiten. Das heißt: Wenn wir eine evolutiv neue Kunsttheorie finden können, in welcher alle bisherigen Kunstkonzepte der Menschheit als innere Einzelbereiche, Sonderfälle und allmählich ausgebildete Segmente zu erkennen sind, dann sind auch alle bisherigen Kunstwerke – hier der Malerei – aus einem anderen Blickwinkel heraus interpretierbar. Sie erhalten eine neue Bedeutung. Wir erkennen sie einerseits in einem Gesamtzusammenhang, der bisher fehlte, sie werden daher in eine neue Struktur eingefügt, ohne dass sie hierdurch etwas an Bedeutung und Würde verlieren. Da wir aber die Werke nicht aus der linearen Blickwinkel der Vergangenheit heraus betrachten, sondern aus einem All-Blick der Zukunft, erhält unsere Analyse der Werke eine befreiende Leichtigkeit, welche den Werken vielleicht mehr gerecht wird.
Unsere Entfaltung dieser neuen Kunsttheorie, welche auf der Grundwissenschaft des Universalphilosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781 bis 1832) basiert, haben wir unter wichtiger geistiger und materieller Mithilfe Reinhard Diezls in dem Werk „Die Vollendete Kunst“ 1990 publizieren können. Darin finden sich auch wichtige Bilder des Künstlers aus der Zeit von 1972 -1976 .
Um unseren Vorschlag einer geänderten Interpretation gegenwärtiger Bildsprachen mittels einer evolutiv neuen Universalen Kunsttheorie einzulösen, sind wir gezwungen, deren Grundthesen hier kurz zu skizzieren.
Die All-Kunst-Theorie
Die Universal-Kunst, All-Kunst oder nach Krause Or-Om-Kunst bietet mit ihren Erkenntnissen eine für die Entwicklung der Kunst qualitativ neue Evolutionsstufe.
Die Inhalte, die etwa in der Malerei dargestellt werden können, sind in den Hallen der Or-Om-Kunst in einer bisher nicht erreichten Form neu erkannt und geordnet. Kein bisheriger Künstler hat diese Zusammenhänge erkannt. Das gilt auch für Kunst-Theoretiker.
Wir benützen die Metapher von Hallen, um die verschiedenen Richtungen der Kunst, vor allem jene, welche seit der Klassischen Modere ausgebildet wurden, in den All-Zusammenhang zu bringen.
Hallen
∞ Halle I blau
Gegenstand (Inhalt) ist die Natur e, Teile der Natur, Landschaft, Erdschichten u. dgl., Mineralreich, Pflanzen, Tiere und Menschen, soweit diese Wesen leiblich, natürlich sind.
Welche Richtungen der bildenden Kunst sind hier einzufügen? Alle Richtungen mit Naturbezug:
Traditionelle Landschaftsmalerei, Akt, Still-Leben, in der Moderne z. B. Objet trouvé und Readymade, Environment, Land Art, Natur-Kunst, Bearbeitungen von Naturstoffen, Collage, Decollage, Grattage, Fumage usw., Neorealismus, Fotorealismus, Figurativer Realismus, Kritischer Realismus, Sozialistischer Realismus. Alle diese Richtungen hinsichtlich ihrer materiellen Aspekte. Manche besitzen darüber hinaus auch geistige Elemente.
An diese Halle schließt die Halle ö an, in der alle jene Inhalte gegeben sind, wo die Natur oder Teile derselben, Lebewesen in ihr als mit dem Grundwesen in Verbindung stehend, dargestellt werden (naturmystische Kunst, bestimmte Richtungen der mythologischen Malerei, im Weiteren individuelle Mythologien und Symbolwelten, Kultische Montagen).
∞ Halle II gelb
In Halle II finden sich alle Kunstinhalte geistiger Art, wo es Naturgegenstände überhaupt nicht oder nur mehr in einer bereits durch geistige Operationen veränderten Form gibt.
Zusatz: Natürlich kann der Mensch auch Naturgegenstände nur durch geistige, begriffliche Operationen, Phantasie und Sinnlichkeit überhaupt erfassen, aber bei Gegenständen in Halle II sind die Operationen der Erzeugung nicht auf die von außen kommenden Eindrücke beschränkt, sondern der Geist leistet Zusätzliches, um diese Gegenstände zu kreieren.
∞ Halle IIa grün
Richtungen des Surrealismus (antirationalistisch, Traum, Automatismus und Geisteskrankheit als Quellen der Anregung), Dadaismus (Zufall, antirationalistisch), subjektive Neugestaltung, ähnlich der Natur, figurative Modulationen, symbolistische, emblematische, mythische und mystische Figuration, teilweise in Verbindung zur Halle ö und ü, etwa in den meisten Richtungen des Manierismus, Wiener Phantastischer Realismus, Individuelle Mythologien und Symbol- und Zeichenwelten, Kultische Montagen, Archetypisches, Prähistorisches.
Geometrisierende Naturdarstellung bei Cezanne (hier wiederum teilweise Verbindung mit Halle ö), im Kubismus und Futurismus.
Natürlich werden etwa im Expressionismus (z. B. Bildern von Munch) Naturgegenstände durch Gefühle des Geistes so weit verändert, dass die Bilder in der Überschneidung von Halle I und Halle II stehen.
∞ Halle IIb
In Halle IIb befinden sich reingeistige, konstruktivistische Formenwelten (Forminhalte) ohne Naturbezug.
Diese Malerei wird heute immer noch fälschlich als „abstrakte Malerei“ bezeichnet. Die Formen sind jedoch nicht aus der Natur abstrahiert, sondern stellen rein geistige Formen dar, die durch keinerlei Abstraktion aus der Natur erreicht werden.
Während bei der Erzeugung von Bildwelten in IIa noch Naturformen in irgendeiner Weise mitbenutzt werden, erfolgt in IIb nur die Darstellung bestimmter Arten rein geistiger Formen, die es in der Natur nicht gibt oder geben kann. Die menschliche Phantasie arbeitet daher in diesen Bereichen ohne Bezug auf Naturformen, die ihr bekannt sind. Es ist ein Verdienst der modernen Malerei, diese Formen überhaupt erst klar für die Kunst herauspräpartiert, deutlich erobert zu haben.
Dieser Bereich umfasst in etwa die Richtungen der „geometrischen Abstraktion“: konstruktivistische Abstraktion, Kinetik, de Stijl-Bewegung, Bauhaus, Abstraktion-Creation, geometrische Abstraktion, Post Painterly Abstraction, Farbfeldmalerei, Signalkunst, Konkrete Kunst, Op Art, Minimal Art, verschiedene „abstrakte Richtungen“ der digitalen Kunst, symbolistische Abstraktion, soweit nicht in IIc, in Verbindung mit ö und u alle esoterische, mythische und mystische Symbolik, Ornamentik und Emblematik. Grundlage aller dieser Schulen bilden betont geometrische und mathematische Komponenten der inhaltlichen Gestaltung der Formen.
Diese Schulen richten sich gegen Figuration, soweit sie Naturgegenstände betrifft, sie sind antisubjektivistisch, daher Bezug auf „objektive“ Mathematik und Geometrie, antiphantastisch (Gegensatz zu II a), Betonung strenger mathematischer Regeln gegenüber spontanen Richtungen, Reduktion und Zügelung der Kreativität, Rationalismus.
Zusatz: Natürlich gibt es auch in Halle I den Gegensatz zwischen den beiden Ansätzen, aber er bezieht sich dort nur auf Naturgegenstände.
∞ Halle IIc
Reingeistige, spontanistische Welten. Hier handelt es sich ebenfalls um rein geistige Forminhalte, sie sind aber nicht durch die Regeln unter II b bestimmt, sondern durch gegenteilige Grundthesen:
Spontanistisch kreativer Einsatz der Phantasie und von Begriffen zur Erzeugung intuitiv spontaner Formen, Lyrismen, subjektivistische Formensprache, Ausdruck persönlicher Emotion, des Unbewussten usw., antikonstruktivistisch, phantastische Zeichensprachen, weitergeführt bis zur Selbstthematisierung des Malprozesses. Folgende Richtungen sind bisher entwickelt worden: lyrische Abstraktion, farbgestische Abstraktion, Abstraktion der genetischen Figuration, magische Abstraktion, semantische Abstraktion.
An der Schnittstelle der Hallen II b und II c gibt es bereits heute Richtungen einer synthetischen Abstraktion. Und gerade dort wollen wir die hier zu interpretierenden Arbeiten Diezls ansiedeln!
∞ Halle II d
Reingeistige, betont konzeptuelle Bereiche, Konzept-Kunst. Hier erfolgte in Moderne und Postmoderne und durch die Digitalisierung eine inhaltliche Explosion und Emanzipation.
Gegenstand des Kunstwerkes ist nicht ein in Naturstofflichkeit umgesetztes und damit einem Betrachter über die Sinne zugängliches. Die Werke sind „antiretinal“. Konzept und Idee sind das Kunstwerk.
Varianten und Übergänge in die Netzkunst http://or-om.org/kunsterweiterung.doc: Art & Language, Kontextreflexive Kunst im Kunstkontext. Plurifunktionale und mehrschichtige Bild- und Diskursmodelle, Maps and Models, Hypertext: Blurting, Mapping and Browsing, Vernetzungskünst(l)e(r), „Netzsystem Kunst“ als „permanente Konferenz, Netz-Werke“, Der Beobachter als Akteur in Happenings und umweltsensitiven Installationen/re- & interaktiven Kunst, Multilokale Zwei-Weg-Kommunikation, „System-zu-System-Beziehungen“, Netzkunst, Kunst im Netz und mit dem Netzwerk, Sparten von Netzkunst, Analog und digital, Virtuelle Persönlichkeiten, Aufmerksamkeit-Limitierung-Wert Webseiten, NetArt: Webness und (Post-)Avantgarde, Medienformen, NetArt versus Kunstbetrieb.
Weitere Extensions unter: http://portal.or-om.org/arttheory/ExtendedArt.aspx
∞ Halle III purpur
Metaphysische, transzendente, religiöse, theosophische, göttliche Bereiche und vor allem ihre Verbindungen mit den Hallen I und II.
All-Kunst-Theorie und Diezls Bilder.
Eine der wichtigsten Neuerungen der Or-Om-Kunst-Theorie ist der Umstand, dass Geist und Natur nicht etwa, wie lange in der klassischen Metaphysik, Religion und Esoterik in Ost und West angenommen, in einem Über- Unter-Verhältnis stehen. Die beiden unendlichen Reiche von Geist und Natur stehen nebeneinander unter dem absolut unendlichen göttlichen Bereich, mit dem sie beide verbunden sind.
Was die Malerei der Moderne u.a. evolutiv geleistet hat, ist die saubere und klare Eroberung der Geistformen als eines selbständigen unendlichen Formenkanons neben den in der Malerei abgebildeten Formen der Natur. Der streng mathematisierenden und geometrisierenden Richtung (II b) steht die lyrisch spontanistische (II c) gegenüber. Zweifelsohne finden sich bei gewissen Künstlern deutliche Beweise für eine Synthese dieser beiden Richtungen.
Jedem Betrachter wird der deutliche Unterschied zwischen den Bildern Diezls aus den Jahren 1972 -1976 in unserem Buch über die vollendete Kunst und jenen aus den letzten Jahren auffallen. Während in den früheren Werken noch die Reste von Naturformen in Bildgestaltung und inhaltlichem Konnex enthalten sind, ist das neuere Werk seit 2010 von jeglichem Naturbezug befreit.
Wenn man diese neueren Werke zu interpretieren versucht, sollte man sich im Sinne unserer Kunsttheorie von Assoziations- und Beziehungsketten lösen, welche irgendwie mit Naturkörperlichkeit und Naturformen zu tun haben. Damit müssen wir eine Vielzahl empirischer Weltbezüge unserer gewohnten Erfahrung vergessen. Wir sollten anerkennen, dass der Künstler hier in Formenwelten eindringt, sie erschließt oder erzeugt, welche eben nicht „abstrakt“ sind, weil sie von nichts abstrahiert und hergeleitet werden. Sie haben keinen Bezug zu Naturgegenständen, oft womöglich nicht einmal zum körperlichen Subjekt des Künstlers. Die Interpretation sollte ähnlich wie bei musikalischen Kompositionen, natürlich soweit sie nicht Naturgeräusche und – Klänge nachahmen, als das beurteilt werden, was sie sind: Autonome geistige Schwingungen, Konfigurationen, Kompositionen und Variationen von Elementen in Mutation. Es sollte nicht versucht werden, diese Arbeiten unbedingt als emotionale Ergüsse des Künstlers zu sehen. Im besten Fall greift er – im Sinne der inneren Notwendigkeit Kandinskys – in einem Ausnahmezustand auf geistige Formen zu, die er prozessual erschließt.
Mit diesem aus der neuen Kunsttheorie erzeugten Schlüssel öffnet sich uns ein Tor zu Diezls Werk, durch welches wir die Vielschichtigkeit der Arbeiten in einer freien und lockeren Weise erkennen.
Er schafft im rein geistigen Bereich Werke, welche früher (1972 – 1976) noch Reste von Naturformen enthielten (II a), entwickelt aber im Weiteren im Bereich II c geometrisierenden und konstruktivistischen Tendenzen entgegengesetzte Formen und Farbflächen, oft mit lyrischen Elementen durchsetzt. Es wäre jedoch noch zu oberflächlich, wenn man seine Ausflüge in geistige Formenreiche auf diese Sphären beschränken würde. Denn bei aller Betonung des Spontanen und Antikonstruktiven setzt sich in den Werken doch sehr oft ein architektonisch struktural-„kubistisches“ „Endergebnis“ im Sinne der Schulen II b durch. Darin liegt die bei Diezl gewonnene Synthese der beiden geistigen Konzepte von Bereich II b und II c. Er arbeitet in beiden Sphären locker und frei und bringt sie zu neuen Kombinationen und Synthesen.
Manche Werke sind bestimmt vom „tachistischen“ Duktus (2011/5 und 16; 2012/4 und 24; 2013/29 und 32) , andere von einem architektonisierenden Duktus bei Überwiegen des Farbfeldes (2012/1, 8 und 17) bisweilen kommt es auch zu einer Kombination der beiden Tendenzen (2011/10).
Elemente der Farbfeldmalerei finden sich in zahlreichen Werken (2012/6 und 7; 2013/7, 12 bis 20, 22, 26, 27, 38, 40, 44 bis 47) oft kombiniert mit „kubistischen“ (2013/ 8 und 28) oder strukturalen Tendenzen (201/25 und 48).
Strukturalisierende Arrangements der Spontanistik finden sich etwa dual in (2011/12 und 13 sowie in 2012/3) sowie in „kubistischer“ Tendenz in 2012/ 5, 9-16, 26 und 27 sowie 2013/30, 31, 33 bis 37.
Die erschlossenen Formwelten handhabt der Künstler mit einer lockeren Heiter- und Witzigkeit, die wohltuend frei ist von funktionalen Konnotationen. Es ergeben sich in einer eigenen Sprache komponierte „Musik“stücke, die allmählich in ihrer Gesamtheit eine neue Symphonik besitzen.
Manche Bilder strahlen eine lichte Stille aus. Vielleicht dringen hier die Formen bis an den Rand des Göttlichen durch, oder sie spiegeln es in einem geistigen Gleichnis.
Breitenfurt am 4. März 2014
Siegfried Pflegerl