Dieter Ronte

geb. 1943 in Leipzig

studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Romanistik

1979-1989 leitete er das Museum Moderner Kunst Wien
1989 – 1993 Direktor des Sprengel Museum Hannover
1993-2006 Direktor des Kunstmuseum Bonn

Daneben zahlreiche Lehraufträge und Gastprofessuren. Er war ein enger Freund von Adolf Frohner und ist seit 2007 Direktor des Forum Frohner.

Reinhard  Diezl
und die Malerei der leuchtenden Geheimnisse

Das Bild liegt auf dem Boden. Wegen eines Transports mit einem zu kleinen Auto ist es vom Keilrahmen befreit und gerollt worden. Wieder ausgerollt liegt es weidwund mit der darstellenden Fläche nach oben. Es ist nicht gestrafft dafür locker, etwas aus der Form.  Die Rückseite fühlt sich rau an. Die Vorderseite dagegen glatt. Ein intensiver Prozess muss stattgefunden haben, um diese Rauheit in Glätte zu überführen. Zugleich muss der Künstler den Vorgang versinnbildlichen.

An den Bildrändern werden andere Farben sichtbar als auf der Vorderseite. Das Bild ist schichtweise aufgebaut worden. Die leere Leinwand wurde zunächst mit einer anderen Farbe bestrichen, die, wenn man genau hinsieht aber leicht durchschimmert.  Alles in dem Bild ist offen, transparent. Nichts wird in den Bildern von Diezl zu- und übergestrichen oder so übermalt, dass das Darunterliegende nicht mehr einsehbar ist. Der Malprozess ist zwar irreversibel aber für den Betrachter immer nachvollziehbar.

Dieser Prozess ist die eigentliche Geschichte des Bildes, ihre Narration über einen Gegenstand, der nicht als solcher zu erkennen ist. Er ist nicht einordbar. Denn es sind Bilder der Kunst. Bilder, die nicht von anderen berichten, die keine ikonographischen Bindungen eingehen. Bilder, die frei sind, nur sich und dem Künstler verpflichtet. Doch nach der Fertigstellung sprechen sie nur noch von sich selbst. Sie laden die Betrachter ein, mitzudenken und mitzufühlen. Denn sie tragen zwei Komponenten immer mit sich: Die Rationalität ihrer Entstehung und die Emotionalität ihres Ausdrucks. Wieder aufgespannt füllt das Bild problemlos die ganze Wand, es beansprucht sie.

Die Bilder von Diezl sind Metamorphosen des Geistes. Sie sprechen für eine andere Welt, jene, die nicht unser Alltag ist. Die Bilder, die deshalb auch keine Titel tragen sondern Produktionsnummern, sind vehement abstrakt. Es gibt in der österreichischen Kunst keinen weiteren Maler, der die Abstraktion so weit vorangetrieben hat wie Reinhard Diezl. Vorantreiben ist vielleicht der richtige Begriff. Der Maler treibt seine Malereien voran und ist selbst in dieses Treiben intensiv integriert. Gerade weil der malerische Vorgang so vehement ist, tragen alle Bilder autobiographische Züge. Die Bilder sind im Künstler verankert, der sie durch den Malprozess für alle freigibt. Die Unmittelbarkeit erreichen sie dadurch, dass nichts von außen hineingeflossen ist, dass die Welt außerhalb des Bildes das entstehende Bild in keiner Phase stören oder gar beeinflussen konnte.

Die Gemälde sind in einem raschen Vorgang entstanden. Die Geschwindigkeit des Mal-Aktes spielt, so wie es der französische Maler Georges Mathieu gefordert hat, eine konstituierende Rolle. Die Geschwindigkeit verbietet den klassischen Akademismen den Zutritt. Sie hält das Bild in seiner neutralen Position zur Umgebung. Diese Freiheit der Nicht-Abhängigkeit ist für den Künstler ein Traum, ein gewollter und gesuchter Lebenstraum, der ihn diese grandiosen Formulierungen realisieren lässt.

Das Auftragen der dünnen, lasierenden Farben sprengt die Lügen der Malerei. Keine Perspektiven, keine Kompositionen mit geregelten Zuordnungen von großen und kleineren Bildelementen. Keine Versuche etwas abzubilden, das im Bild eben keine Wahrheit werden kann, sondern immer nur eine Abbildung bleiben würde.

Der Bildtitel von René Magritte, „Ce ne pas une pipe“ mit der Darstellung einer Pfeife, ist für Diezl kein Vorgang, den er malerisch nachvollziehen will. Denn alle seine Bilder sind von einer ungleich großen Offenheit und Ehrlichkeit. Sie ruhen in sich selbst und sprechen von sich selbst. Die Auftragung der Farben mit breiten Pinseln und anderen  Malutensilien führt zu einer Steigerung der Verbindungen von den Farben und die in sich tragenden Binnenformen.

Letztlich ist pure Energie entstanden. Die Bilder sind energetisch aufgeladen, nein, eigentlich sind sie wirklich pure Energie. Sie können sich ganz auf sich selbst konzentrieren. Wohl aber vertreten sie eine deutliche Sprache, die den Betrachter ganz im Sinne von Umberto Ecos „opera aperta“ ( das offene Kunstwerk ) den Betrachter einlädt mitzudenken, das Bild bei sich selbst einzuordnen und die malerischen Prozesse für sich selbst weiterzuführen. Jeder Betrachter kann das Bild nur für sich erobern und als gesehenes Wissen in seinen emotionalen Feldern weitertragen:

„Den Stoff sieht jedermann vor sich.
Den Geist findet nur der, der etwas dazu zu tun hat.
Und die Form ist ein Geheimnis den meisten.“
Goethe

Natürlich wird jeder Bertachter etwas anderes sehen und fühlen, obwohl alle dasselbe sehen und fühlen. In dem Moment, in dem der Künstler ein Bild freigibt, es also der Öffentlichkeit übergibt, beginnt das Eigenleben eines jeden Bildes. Es baut sich seine Zukunft selbst auf, es agiert aus der Gegenwart seiner Entstehung nach vorne und hinterlässt die Vergangenheit. Bilder, die mit einer konsequenten Stringenz geradezu in die Welt geschleudert wurden, passen sich dennoch ein in die Laufbahn ihrer Zukunft. Da die Bilder von Diezl die zeitlichen Bindungen an ihre Umgebung nicht in sich tragen, sind sie besonders zukunftsfähig, denn sie sind im fertigen Zustand allen momentanen Zwängen  enthoben.

Dennoch schließen die Bilder assoziative Erkenntnisse nicht aus. Der eine wird sich an Wolken, Wasser, Schaumkronen usw. erinnern, der andere an Berge, wieder ein anderer nur an Kunst oder den Künstler als Person und die Gespräche mit ihm. Die Vorlieben für Farben wie Rot und Blau und Weiß und Schwarz werden traurige und heitere Erinnerungen und Assoziationen wach rufen. Denn die Bilder sind Träger der Emotionen der Erinnerung des Künstlers selbst, der diese in der objektivierten Form eines Bildes zur Diskussion stellt.

In den letzten Bildern von Diezl durchdringt ein geheimnisvolles Leuchten die Bilder. Sie leuchten wie von der Sonne angestrahlte Glasfenster, nur dass die Bilder aus sich heraus leuchten. Selbst das sonst so zudeckende Schwarz wird in seiner Körperlichkeit völlig aufgehoben. Die Farben vermitteln eine überzeugende Leichtigkeit. Man kann von einer Ikonographie der Farben sprechen. Die Farben überkriechen sich und verschmelzen mit anderen Farben auf der hermetischen Malfläche Leinwand. Vertikale Auseinandersetzungen aktivieren sich gegenseitig und  werden tolerant im bildlichen Miteinander, obwohl die Farben stets ihre Eigenständigkeit betonen. Sie werden auf dem Bildträger so virtuos gemischt, dass die Gegensätzlichkeiten einander akzeptieren. Die Hegemonien werden eins mit sich selbst und bilden eine Einheit von verklärender Schönheit.

Bei aller möglichen Erkennbarkeit einzelner Bildformen ist es nicht möglich, ein Bild genau zu beschreiben. Jedes Bild würde ein russischer Roman von vielen hundert Seiten. Die Bilder verweigern die sprachlichen Begriffe, da sie nicht abbildend sind. Nur von abstrakter Malerei zu reden reicht nicht aus. Denn es sind keine konstruktiven Bilder wie die der Züricher Konstruktivisten, sondern aufregende Ballungen in vielen Schichten, die alle von etwas anderem berichten. Diese Vielschichtigkeit der Bilder erklärt auch die oft vorhandene Unfähigkeit, die Bilder richtig zu lesen. Denn wir sind darauf ausgerichtet, die Dinge sinnvoll und möglichst schnell einzuordnen. Dieser rationalen  Akademisierung entziehen sich die Bilder, da sie in sich einen Reichtum tragen, der nur langsam erfahren werden kann. Der Prozess des schnellen Malens führt zu einem Prozess der langsamen Eroberung. Man muss die Bilder sehen. Man kann sie sich nicht erzählen lassen.

Einer der schwierigsten Momente beim Malprozess ist die Entscheidung des Künstlers, wann er die Malerei beendet hat. Dieser Moment ist von Anfang an ein ständig fragender Teil der Malerei. Wird das Bild besser, wenn nicht weitergemalt wird, oder kann die eine oder andere Hinzufügung das Bild noch verbessern? Bei Diezl geht es nicht um einen gemalten Gegenstand, der das Bild bereichern soll oder um eine exaktere Darstellung eines Bildteils, sondern immer um eine für das Bild existentielle Frage nach seiner Wahrheit. Der Malvorgang ist ein Vabanquespiel. Jedes Bild wird zu einem neuen Abenteuer.

Die Bildformen, aus deren innerer Bewegung das große Ganze bestellt ist, sind kleine sich aber gerne wiederholende Bewegungsabläufe aus der Körperlichkeit des Künstlers heraus: Dieses Einbringen der Körperlichkeit ist in den Bildern ablesbar und fast physisch nachvollziehbar. Die Augen lesen diese Rhythmisierungen wie die Buchstaben in einem Text. Willi Baumeister spricht in dem Buch „Das Unbekannte in der Kunst“ ( 1945 ) vom „Rhythmus als Zeitkörper“. In der Tat berichtet Diezl von diesen seinen Erfahrungen, Überlegungen und Erkenntnissen. Die Bilder sind wie Gleichnisse seines Lebens und seines Denkens. Jedes Bild ist die Fortführung und zugleich die Trägerin aller bisher gemachten Erfahrungen. Der Bildleser kann fortfahren, indem er sich in das Bild einbindet. Ein spannender Vorgang ohne ein wirkliches Ende. Ein Bild von Diezl wird sich dennoch nie vollständig entziffern lassen.

Die Bereiche, in denen der Künstler operiert, können emotionale Bereiche genannt werden. Die Bilder rufen starke Emotionen hervor. Doch sie versuchen nicht mit bildnerischen Mitteln sich der Analyse zu nähern. Sie bleiben unabhängig und völlig frei. Damit formulieren sie ein künstlerisches Credo: die Freiheit der Kunst. Denn diese ist nicht nur eine Frage der Rezeption und möglicher Verbote, sondern eine immer agierende grundsätzliche Frage in jedem Moment bei der Erstellung eines Kunstwerkes. Gelingt es dem Künstler, ein Bild voller Freiheit zu gestalten, frei von jeglichen Repressionen, auch nicht versteckt von Seiten des Künstlers selbst? Selten ist ein Künstler seinen eigenen Bildern so tolerant gegenüber wie Diezl. Jedes Bild ist seine eigene Persönlichkeit. Jahrzehnte lange Erfahrungen werden sichtbar.

Diezl gelingt die Verwirklichung von künstlerischer Freiheit in einem Prozess, in dem er sich selbst ständig prüfen muss. Denn wenn das Abbild der umgebenden Welt nicht thematisiert wird, dann sucht der Künstler eine andere Welt, jene, die nur die Kunst sichtbar machen kann („Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar.“ Paul Klee). Und diese Welt ist keine formale, sondern eine eigenständige und geistige Welt, in der der Mensch frei denken kann. Die Bilder tragen einen Aufforderungscharakter in sich, eine Aufforderung, sich mit dem Bild auf eine innere Reise zu begeben. Willi Baumeister nennt sein entscheidendes Buch „Das Unbekannte in der Kunst“ und er spricht vom Suchen und Finden. Die Visionen des Künstlers finden ihren Ausdruck in dem Unbekannten als dem eigentlichen zentralen Wert.

Diezl steht in einer langen Tradition der abstrakten Kunst und er steht dennoch auf einem einsamen Posten. Denn die Menschheit hat sich wieder den Themen, der gesellschaftlichen Relevanz, dem stilistischen Durcheinander, der Kunst als Event oder als ökonomische Währung zugewandt. Damit werden der Kunst viele, viele Optionen genommen, z.B. die, mit der Kunst transzendieren oder auch nur meditieren zu können. (Das heißt nicht, dass das Kunstwerk sofort theologisiert werden muss; eine eigentümliche, österreichische Tradition seit Monsignore Otto Mauer, Domprediger und Leiter der Galerie nächst St. Stephan in Wien, in seinen Interpretationen der abstrahierenden Kunst der 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.) Denn wenn die Kunst nur kurzfristig angelegt ist, weil nur zu einem Ereignis hin komponiert wird, verliert sie auch ihre Eigenschaften des langsamen und langzeitlichen Wirkens. Diezl hat auf diese Fragen eine eindeutige Antwort mit seinen geheimnisvoll leuchtenden Malereien gegeben, die nur mit großer Bewunderung verstanden werden kann.

Dieter Ronte
Bonn, im Februar 2014